Prof. Ilona Kickbusch - Inspirierende Frauen - VDBIO

 

„Es braucht wieder Netzwerke“

 

Interview mit Prof. Ilona Kickbusch, Direktorin des Zentrums für Globale Gesundheit im Genfer Hochschulinstitut für internationale Studien 

Professor Dr. Dr. h.c. (mult) Ilona Kickbusch hat maßgeblich zu Innovationen in der globalen Gesundheit beigetragen. Sie berät Länder und Organisationen, darunter den Generaldirektor der WHO. Sie war Mitglied des unabhängigen Expertenpanels zur Evaluierung des WHO-Ebola-Einsatzes sowie der Taskforce Global Health Crisis des Generalsekretärs der Vereinten Nationen. Sie ist Vorsitzende des International Advisory Board zur Überarbeitung der deutschen globalen Gesundheitsstrategie und Vorsitzende des Council of the World Health Summit. Sie ist Mitbegründerin des Women in Global Health Netzwerkes (Zur Website "Women in Global Health Germany"). Im Jahr 2016 wurde ihr in Anerkennung ihrer Verdienste um die globale Gesundheit das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen.

 



Gender ist ein Querschnittsthema in der Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung mit ihren Nachhaltigkeitszielen. Welche Rolle spielt die Umsetzung der Genderaspekte in den SDGs in Ihrer Arbeit?
Gender ist schon immer ein Thema gewesen, in meiner Arbeit zu Gesundheit – als Frauengesundheit einerseits und als empowerment andererseits  – und für meine persönliche Biographie sowieso. Ich freue mich, dass Genderfragen so stark in den SDGs verankert sind. Es ist im politischen Bewusstsein angekommen, dass man wahrscheinlich keines der SDGs erfüllen kann, wenn man nicht eine Gender-Debatte führt, die wirklich auf equity und parity ausgerichtet ist. Es reicht nicht, quantitativ zu schauen, wie viele Frauen sind hier oder dort. Vielmehr geht es um politische Machtfragen und um Ressourcenverteilung. Aber ich glaube, dieser Bezug ist noch nicht so klar für alle, insbesondere wenn sie an anderen SDGs arbeiten.

 

Können Sie sich erinnern, was Sie als Kind einmal werden wollten? Konnten Sie die Ideen später verwirklichen?
Als Kind hatte ich zwei widerstrebende Vorstellungen: Ich wollte die erste Bundeskanzlerin werden und Prince Charles heiraten. Diese beiden Ideen sind sich immer gegenseitig im Weg gewesen. Mein Vater war Diplomat. Wir waren zwei Töchter und meine Eltern kamen aus Familien, in denen Mädchen nichts wurden außer Friseusen. Mein Vater ist leider sehr früh verstorben. Die Familie hatte die Idee, die Ilona könnte doch den Friseursalon übernehmen. Meine Mutter hat dann eine sehr gute Taktik entwickelt – sie hat mir nie gesagt, ob es stimmte – aber sie hat immer darauf bestanden, sie habe meinem Vater versprochen, dass die Mädchen einmal studieren würden und dieses Versprechen müsse sie einhalten. Und da konnte natürlich niemand etwas sagen. Ich bin zuerst Bibliothekarin geworden, beeinflusst durch die Schule. Dort hatte man mir gesagt, ich könnte Literaturwissenschaften studieren und Lehrerin werden. Ich wollte aber nicht Lehrerein werden und dann habe ich mir eben etwas anderes gesucht. Während des Studiums bin ich in die Studentenbewegung reingerutscht. Dann habe ich Politikwissenschaft studiert und … no looking back.

 

Wie sind Sie dann weiter daran gegangen, Ihre Karriere aufzubauen und den Job zu finden, der am besten zu Ihnen passt und wo sie am meisten beitragen können?
Der Job ist eigentlich zu mir gekommen. Ich hatte sehr viel Glück mit meinen Mentoren an der Universität, mit den Professoren. Und: was mich interessierte, passte in den Zeitgeist. Ich arbeitete bei Prof. Badura, der gerade aus den USA zurückgekommen war. Ihm ging es darum, in der Politikwissenschaft ein neues Verständnis von Gesundheit zu entwickeln. Ich war inzwischen sehr in der Frauengesundheitsbewegung aktiv und diese Ideen, die dort entwickelt wurden, haben sehr schön ins Forschungsprojekt gepasst. Ursprünglich dachte ich wirklich, ich würde in der Forschung bleiben. Durch diese Arbeit bin ich dann aber auf verschiedene Tagungen gekommen. Es ergaben sich Kontakte mit der Weltgesundheitsorganisation und ich bekam das Angebot, eine Zeitlang für die WHO zu arbeiten. Ich habe mit einem relativ kurzen Vertrag angefangen und war dann 16 Jahre dort. Mir wurde schnell klar, dass das, was ich dort machte, sehr gut zu mir passte, dass ich viel beitragen konnte. Damals waren sonst alle Männer. Ich war die erste Direktorin im WHO-Regionalbüro und war jünger als einige meiner Zuarbeiter. Man musste an sich glauben, brauchte Unterstützung und durfte nicht zu empfindlich sein. Man musste sich einfach zur Wehr setzen. Ich habe meine Rolle damals politisch verstanden. Für mich war klar, wenn ich Direktorin werde, dann ist das eine politische Aussage. Ich habe nicht angefangen mit der Idee, unbedingt Regionaldirektorin zu werden. Für mich war immer wichtig, etwas zu bewegen, und dafür brauchte ich Macht in der Organisation.

 

Sie haben schon angedeutet, dass es nicht immer einfach war. Welchen Hindernissen sind Sie begegnet und wie sind Sie damit umgegangen?
Für mich kamen mehrere Aspekte zusammen: Ich war eine der jüngsten Professionellen, ich war weiblich, unverheiratet, keine Medizinerin – das war schon ziemlich viel auf einmal. Nach ein paar Jahren war ich dann auch noch uneheliche Mutter. Ich war also sowieso völlig anders und in gewisser Weise hat mir das geholfen. Dadurch, dass so viele Dinge zusammenkamen, ließ sich nicht alles auf die Genderfrage zurückführen. Ich habe dann verschiedene neue Entwicklungen in der WHO angestoßen, z.B. die Betrachtung des systemischen Umfelds, die Arbeit mit Gesundheitsdeterminanten. Vielen Kollegen und auch den Mitgliedsländern passte das nicht und ich musste durch diese Kämpfe hindurch balancieren. Natürlich gab es Sexismus, aber auch den habe ich eher kämpferisch bewältigt. Ich musste einen Weg finden, um mich durchzusetzen und gleichzeitig weiblich zu bleiben. Das war nicht immer einfach. Es hat Fälle gegeben, in denen Männer, Mediziner, nicht unter mir als Direktorin arbeiten wollten. Es ist ihnen dann erlaubt worden, die Abteilung zu verlassen. Ich hab mich beschwert, fand, dass das kein gutes Signal war, aber man hat eben politisch argumentiert. Umgekehrt war es auch so, dass nicht alle Frauen eine Frau als Boss wollten. Meine administrative Assistentin und meine Sekretärin wollten mich eigentlich nicht, sie wollten für einen Mann arbeiten. Zum Teil musste ich mich fast mehr gegenüber diesen Damen bewähren als gegen die Professionellen, denn sie konnten ja alles stoppen. Zugleich hatte ich eine andere Art zu managen und das hatte sich im Hinblick auf Genderfragen bald herumgesprochen. Es kamen immer wieder Frauen zu mir, die sich sexistisch behandelt fühlten, und bei mir als Leitungsperson Unterstützung suchten. Das betraf übrigens nicht nur Frauen sondern auch Homosexuelle. Es gab damals einige Männer, die kein Coming-out wollten, weil die Organisation das nicht akzeptiert hätte.

 

Sie sprachen davon, dass Sie unter den Männern Mentoren und Unterstützer gefunden hatten. Wie kam es dazu?
Dass ich als sehr untypische Person die Stelle in der WHO bekommen habe, war auf den damaligen finnischen Regionaldirektor zurückzuführen. Er signalisierte mir bei meiner Einstellung, er stünde jederzeit zur Verfügung. Sein Stellvertreter war Norweger. Dann war da noch der Direktor meiner Abteilung, von dem ich sehr, sehr viel gelernt habe, er war Schwede. Und dann hat mich irgendwann der Generaldirektor entdeckt, ein Däne. Ich sage oft in Reden in Skandinavien, dass ich skandinavischen Männern sehr viel zu verdanken habe. Ich konnte jederzeit zu ihnen gehen. Das waren die wenigen Kollegen, bei denen ich zwischendurch meinen Frust loswerden konnte. Ich konnte ganz offen sein, wir konnten streiten. Sie haben mir nicht in allem zugestimmt, mich aber in hohem Maße unterstützt. Sie haben mir auch geholfen, Fehler einzugestehen, meinen Weg zu entwickeln. Das war extrem hilfreich. Es waren demokratisch ausgerichtete Männer vorhanden, die mir das Gefühl gaben, dass sie schätzten, was ich für die WHO tat. Damals gab es keine Frauen als Rollenmodelle – but the Scandinavian men made the difference.

 

Lassen Sie uns kurz über work-life balance und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sprechen. Können Sie dazu einen Rat geben aus Ihrer persönlichen Erfahrung?
Ich war die erste professionelle Frau im Regionalbüro, die ein Kind bekam und dann auch noch unehelich, obwohl der Vater ja bekannt war, er lebte eben nur nicht in Kopenhagen. Es war eine tolle Erfahrung und ich genieße es bis heute. Man muss natürlich sein Leben organisieren und auch finanzielle Entscheidungen treffen. Ich habe sehr viel in Kinderbetreuung investiert, damit mein Sohn gut versorgt war, wenn ich nicht zur Verfügung stand. Ich habe bestimmte Regeln aufgestellt, z.B. bin ich immer um 5 Uhr gegangen, auch wenn executive meetings anstanden. Das war mitunter den anderen ganz recht. Man muss sich selber Regeln geben, die Zeit planen, die man mit seinem Kind verbringt. Ich habe mich immer darum gekümmert, dass wir in Ausstellungen oder spazieren gingen, dass wir zusammen Bücher lasen. Ich sehe bei vielen Kollegen, dass sie sich diese Zeit nicht nehmen. Dabei sind diese anderen Eindrücke wahnsinnig wichtig. Ich habe daraus immer auch Anregungen für meine Arbeit gezogen. Freunde sind auch wahnsinnig wichtig. Es ist oft so, dass Leute nach der Ankunft eines Kindes ihre Freunde vernachlässigen. Egal ob man eine Beziehung hat oder nicht, Freundschaften sind zentral und man muss sich dafür unbedingt Zeit nehmen. Also für Anregungen sorgen, für Entspannung sorgen, Freunde wichtig nehmen, wirklich für die Familie da sein. Das sind wichtige Dinge. Es klappt nicht immer, auch ich habe es nicht perfekt geschafft. Gerade, wenn man seine Arbeit gerne macht, ist es schwierig. Ich habe nebenher auch immer viel publiziert. Das hat mir später geholfen, in die Wissenschaft zurückzugehen und nicht bei der WHO bleiben zu müssen. Aber das hat auch bedeutet, zu lesen und zu schreiben, wenn das Kind im Bett war. Das war für mich nie ein Grund, mich zu beschweren. Ich fand immer, ich hatte ein privilegiertes Leben. Ich war die erste akademische Frau in meiner Familie, ich bekam internationale Positionen, habe ein tolles Kind. Was sollte ich mich beschweren? All das ist auch eine Frage, wie man sich selber zu- und einordnet.

 

Ein letzter Rat, den Sie Frauen in der Mitte ihrer Karriere geben können, Frauen, die heute versuchen, ihren beruflichen Weg zu finden und dabei glücklich zu werden?
Sie sollen genau überlegen, was sie glücklich macht, und Dinge wagen. Ich hab gewagt, ein Kind zu bekommen und wegzugehen, wenn ich nicht zufrieden war. Wir gehören zu den 5% der privilegierten Frauen. Wir haben die Wahl. Wenn wir, die privilegierten Frauen, es nicht schaffen, unser Leben in die eigenen Hände zu nehmen, wer soll es dann schaffen?
Ich entschied mich, der WHO den Rücken zu kehren. Meine Kollegen fragten: ‚Wie kannst Du das machen?‘ Ich verließ eine Tenure Position an der Yale University, weil es mir nicht gefiel. Ich ließ mich dann zunächst freiberuflich in Europa nieder. Ich hatte immer genug gespart, um notfalls von einem auf den anderen Tag kündigen zu können. Ich möchte gern anderen Frauen Mut machen, Entscheidungen zu treffen, sich einzugestehen, dass sie vielleicht an einem Ort nicht glücklich werden können. Vielleicht können sie anderswo mit weniger Einkommen ein glücklicheres Leben führen. Es tun sich dann neue Perspektiven auf, mit denen man vorher gar nicht gerechnet hat. Für mich ist es wichtig, den Mut zu haben, über das eigene Leben zu bestimmen. Manches ist heute vielleicht schwieriger als es damals war. Das macht mich besorgt. Der Druck scheint größer. Wir als die „Gründergeneration“ mussten sehr viel Kraft aufbringen, um bestimmte Barrieren zu durchbrechen. Heute scheint es mir zuweilen, dass so viel Schwere in den Strukturen liegt, dass es einem die Luft nimmt. Man muss sich mit anderen zusammentun. Deshalb haben wir auch das Women in Health-Netzwerk gegründet. Es braucht wirklich wieder Netzwerke, in denen wir uns gegenseitig unterstützen und auch miteinander Spaß haben können.

 

Ein schönes Schlusswort. Ich danke Ihnen für dieses Gespräch!

 

Interview: Dr. Viviane Brunne, VDBIO-Vorsitzende
(veröffentlicht im Juli 2018)